Labyrinthe in die Gegenwart. Zu den Gedichten und Montagen von Gregor Kunz

„Noch keiner hat gewagt, dies auszusprechen:/ Doch weiß ich wie die Seelen großer Männer/ Zuweilen durch uns gehn/ Wie wir in ihnen aufgehn und nichts sind./ Nichts sind als ihrer Seelen Spiegelbild./ So bin ich Dante eine Zeit lang, bin/ Einer namens Villon, Balladenprinz und Dieb./ Bin solche Heiligen, daß ich ihre Namen/ Nicht nennen mag aus Angst vor Blasphemie -/ Dies einen Augenblick, und dann erlischt die Flamme.“ Ezra Pound, „Histrione“ (1910)

Den Dresdner Dichter Gregor Kunz mit Ezra Pound zu vergleichen, liegt nahe. Kunz‘ komplexe Gesänge – oft mit Zitaten eine direkte Verbindung zu den antiken Mythen herstellend, oft auch Homer oder die Vorsokratiker zitierend – sind wie Pounds Cantos immer auch in der näheren, uns definierenden Geschichte, in der Gegenwart und in der eigenen Biografie verankert. Wie bei Pound macht es auch bei Kunz wenig Sinn, alles aufschlüsseln zu wollen. Zu verwoben ist alles, zu groß sind die Auslassungen, dass aus den Mosaiksteinen, die diese Texte liefern, ein Bild zusammengesetzt werden könnte. Ein Ergebnis dieser Methode ist das unaufhörliche Aufreißen von poetischen Räumen. Ein weiteres Ergebnis ist die tiefe Erschütterung, die der Leser erfährt. Auch wenn er nicht alles versteht, beeindruckt ihn doch die Unmittelbarkeit, mit der diese Texte ihn selbst auf sich verweisen.
Gregor Kunz ist Künstler und Dichter in einem. Mitunter sind es die Texte, ein anderes Mal die Bilder, die zuerst entstehen. Die großen Themen (z. B. in den Zyklen „Nach Ithaka“ oder „Abendlandmaschine“) werden nahezu immer parallel als Grafik-Collagen- und Textserien verarbeitet. „Bilder und Texte sind lange nebeneinander her gelaufen und haben sich nur in den Bildtiteln berührt“, sagt Kunz. „Mittlerweile bewegen sie sich im steten Austausch, schieben und fordern einander … Es scheint, als hätten erst diese zwei Ausdrucksweisen miteinander die Themenkomplexe Geschichte / Identitäten / Mythos zusammengeführt und für mich formulierbar gemacht.“
Neben dem Collage-Roman „Look at the Seascape“ (2019, siehe DNN vom 15. Juli 2020) sind zuletzt die ebenfalls mit Grafik-Collagen ausgestatteten Textkonvolute „Nach Arkadia. Zoom“ (2019) und „Labyrinthe. Die Verona-Protokolle“ (2020) erschienen, alle im Verlag Moloko plus, der als Musik- und Print-Label existiert (www.molokoplusrecords.de) und als respektable Wunderkammer allemal einen Besuch wert ist.
In „Nach Arkadia. Zoom“ ist es vor allem der Text „Herakles: lch der Jahre“, der den Leser geradezu anspringt und beschäftigt. Zitat: „Ich ist ein Mörder, groß und ungeschlacht;/ ein hungriger Schatten, schlank und hungrig, die Jugend weicht nicht./ Hungrig, was sag ich, zwischen Willkür und Willkür, ein fressendes Loch;/ wer glaubte denn sonst, verdienter Mörder des Volkes, den Leuten am Telefon...“ Die mythische Gestalt Herakles wird zum Ich in unserer Zeit. Ich kann ein Mitglied einer Gang linker oder rechter Radikaler sein, die - „zwischen Willkür und Willkür, ein fressendes Loch“ - durch die jeweilige Zeit selbst geschaffen worden ist. Ich kann auch - „verdienter Mörder des Volkes“ - ein Stasi-Akteur oder ein wie 007 mit allen Rechten ausgestatteter Agent einer Supermacht sein. „Odysseus, Iason, Herakles hatten nur die Wahl, ihr Schicksal anzunehmen oder zu erleiden, so wie die Götter Homers es ihnen zugesponnen“, sagt Gregor Kunz, der in seinen Texten unaufhörlich Reibungsflächen schafft, die den Puls des Lesers steigen lassen.
„Labyrinthe. Die Verona-Protokolle“ vermitteln einen Blick in die aktuelle Werkstatt von Gregor Kunz. Alle Texte und Montagen stammen aus den Jahren 2019 und 2020. Die Texte - „Daimon“, „Tage“, „Acheron“, „Kore“, „Orpheus“ - konnotieren wiederum antike Mythen, jüngere Geschichte, Gegenwart und die Biografie des Autors. Die Montagen sind am Computer erzeugte Überblendungen von Fotos aus den 20er bis 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Buch-Cover zeigt Menschen, die im grellen Licht stehen und scharfe Schatten werfen. Der Ort könnte ein Friedhof sein, aber auch die Seitenstraße einer Mega-City. Viele der Montagen zeigen Kinder. Kinder, die vor der Realität zu erschauern scheinen. In der Montage „Daimon. Wer ich wäre bei den Anderen und wo ich bliebe“ sehen wir drei Mädchen, das mittlere nahezu ausgelöscht. Eines der vom Kinderfoto überblendeten Fotos scheint einen Trümmerhaufen oder einen für eine Bücherverbrennung aufgerichteten Haufen abzubilden. Im Vordergrund der Montage fliegt eine Hornisse auf den Betrachter zu. Im Text „Daimon“ lesen wir: „Wer ich wäre bei den Anderen und wo ich bliebe?/ Ohne Vater, mutterlos bemüht im Schwarm der Stimmen …// Das Kind, das sucht, was ich nicht finde./ Ich und Ich. Wind nur, aufwärts, und Papiere. ...// Der Junge sagt, er ginge jetzt, verloren sei Verona.“ Dies ist der einzige Bezug zur Stadt Verona in den Verona-Protokollen. Der letzte Text („Orpheus“) endet mit der Zeile „Last Call, bording to Verona, Gate 11 and Gate 12, Gate 153“. In der Anmerkung zum Zyklus lesen wir: „Verona ff ist Traummaterial, als Auftrag angenommen, befragt und entfaltet. Die Zitate sind von Goethe, Homer, Sappho, Herodot, Rilke und Heraklit. Jener Mann ist Pythagoras oder Orpheus und wie alles hier ich.“
Die eingangs aus dem Pound-Gedicht „Histrione“ (= Schauspieler, Maskenträger) zitierten Zeilen vermitteln auch, dass das Ausleben der „Maske“, des eingefühlten Ichs, sowohl mit einer Steigerung des Selbstwertgefühls als auch mit dessen Minderung einhergehen kann. Es bleibt eine Grat-Wanderung. Die dem Dichter entsprechende Lebensform ist die Projektion nach innen, bis in den Kern stärkster Verletzlichkeit. Es ist ein Umschmelzen, und zwar in jeder Hinsicht. „Das eigentliche Ziel des Dichters ist nicht, die Dinge zu beschreiben, sondern sie benennend zu erschaffen, das ist, denke ich, auch seine größte Freude“, zitiert Gregor Kunz seinen literarischen Ahn Giorgos Seferis. Bei seinem Werk ist es doppelte Freude, denn Texte und Bilder entstehen kongenial nebeneinander.

Gregor Kunz: „Nach Arkadia. Zoom“, Gedichte auf CD, Ton und Klang: Winterberg, mit Booklet, bei moloko plus 2019 [15 €], und „Labyrinthe. Die Verona-Protokolle“, Gedichte und Montagen, bei moloko print 2020 [12 €]. Bezug über www.molokoplusrecords.de.

Axel Helbig, Ostra-Gehege 100 (II/2021) und Dresdner Neueste Nachrichten, 26.8.2021


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